Generell versuche ich hier, ein bisschen positive Vibes zu verbreiten. So einmal in der Woche liegt aber ein etwas kritischer Blick durchaus drin, oder? So habe ich von Christian Neff den Input erhalten, mir die Regnose von Matthias Horx anzusehen. Die Idee dahinter: Statt jetzt einen Blick in Zukunft zu wagen, versetzt man sich gedanklich in ebenjene Zukunft und schaut von dort zurück auf die heutige Zeit. Anstatt mich mit dem (durchaus spannenden Text) von Horx auseinanderzusetzen, versuche ich das doch einfach gleich selbst.
Also dann… ich versetze mich in die Vorweihnachtszeit 2020 und schaue auf diesen unglaublichen Frühling 2020 zurück.
Politik
Wie konnten sie nur so dumm sein? Welchen von den Deppen will man zuerst betrachten? Eigentlich kommt es nicht so drauf an. Ihr Verhalten war so unbedacht wie das der Wähler, die ihnen Jahre zuvor die Stimme gegeben hatten, in der Hoffnung, das jetzt «endlich mal etwas verändert» würde. Egal ob man Boris Johnson, Donald Trump oder Jair Bolsonaro nimmt: Sie alle haben eine grosse Zahl von zusätzlichen Toten zu verantworten. Durch ihre grenzenlose Selbstüberschätzung und intellektuelle Limitiertheit in Kombination mit der Unfähigkeit, Fehler zuzugeben haben sie die weitere Verbreitung des Virus begünstigt.
Auch die Schweizer Politik hat sich nicht nur Lob verdient. Unter dem Strich muss ich der Regierung aber ein grosses Kompliment für den Umgang mit der Krise machen. Sie hat in typischer Art des Landes eine stufenweise Anpassung der Massnahmen vorgenommen, die nach einigen Tagen sehr gut verstanden und auch befolgt wurden. Das hat der Schweiz geholfen, den anfänglich steilen Anstieg der Kurve abzuflachen. Die totale Überforderung des Gesundheitssystems konnte so zwar nicht abgewendet werden, doch der Zeitraum dieser Phase war deutlich kürzer, als man zu Beginn hatte annehmen müssen. Merci dafür.
Die Europäische Union hat auf erschreckende Art und Weise die Abwesenheit eines «Wir-Gefühls» erfahren müssen. Statt zusammenzuhalten liess man besonders in der Anfangsphase das massiv gebeutelte Italien praktisch alleine, was dazu führte, dass Russland einen Propagandaschachzug erster Güte vollführen konnte. Wer hilft Italien in der Not? Die USA? Die EU? Nein, die Russen. Auch wenn die Situation inzwischen wieder abgekühlt ist und man in ganz Europa Weihnachten entgegenfiebert, so wird der schale Nachgeschmack über Jahre bleiben und das Projekt der europäischen Integration langfristig infrage stellen.
Kultur
Nach einer kurzen Schockstarre zu Beginn dessen, was wir für immer als Coronakrise im Kopf behalten werden, hat sich insbesondere die Musikgemeinde der Schweiz einige coole Dinge einfallen lassen. Nach den gerade noch so durchgewürgten Swiss Music Awards (damals galt die «unter-1000-Personen-ist-ok»-Regel), wurden sämtliche Konzerte abgesagt. Erst das Projekt #alleswirdgut belebte die ganze Geschichte nachhaltig. Regelmässig fanden nach diesem Startschuss Streamingkonzerte und Kunstperformances statt, die man zuhause via TV oder Internet geniessen konnte.
Die legendäre Zeile aus Bob Marleys Song Three little Birds klang selten so trotzig wie in jener Zeit. Every little Thing’s gonna be alright. Aber, das muss man heute zugeben, am Ende war es zum Glück wirklich so. Rückblickend ist es fast nicht mehr zu glauben, dass wir es so lange ohne Konzerte ausgehalten haben.
Gesellschaft
«Social Distancing» war das Wort der Stunde. Das war zwar ein tolles und einfach Schlagwort, traf aber den Kern der Sache überhaupt nicht. Denn sozial sollte man sich eben genau nicht distanzieren, nur physisch. Der Kälte, die das Alleinsein mit sich bringen kann, wurde schnell mit den Mitteln der modernen Kommunikation entgegengewirkt. Der allmittwöchliche Burgerabend fiel bei uns logischerweise flach. Alternative: Vierer-Videochat bei Burger, einfach jeder für sich zuhause.
Auch sonst wurde mehr kommuniziert. Menschen, die man monatelang nicht sah waren dank WhatsApp und Co. plötzlich näher denn je. Schön ist, dass wir auch nach dieser Zeit ein bisschen davon beibehalten konnten. Denn Dinge wie das Einkaufen für unsere Eltern oder unsere betagte Nachbarin dürfen durchaus auch im normalen Alltag bestehen bleiben. Sich statt «en schöne» am Schluss eines Gesprächs zu sagen, man solle gesund bleiben, hat doch auch etwas.
Und wenn man sich in der Weihnachtszeit wieder damit auseinandersetzt, was man schenken könnte, hat die alte Binsenwahrheit mehr Gewicht denn je zuvor: Neben der eigenen Gesundheit ist die Zeit, die wir gemeinsam haben, das wertvollste aller Geschenke.
Reisen
Was haben wir uns genervt, dass all unsere Reisepläne durchkreuzt wurden. Rückblickend waren die geplanten Ferien ein kleines Opfer im Vergleich zur Gesundheit, die wir behalten oder wieder erlangen konnten. Nachdem im Nachgang der Coronakrise diverse Airlines Pleite gingen und die Flugpreise anzogen, haben lokale Reiseziele deutlich an Bedeutung gewonnen. Ein Nebeneffekt, der nicht nur dem Schweizer Tourismus, sondern auch der Klimapolitik entgegenkam.
Social Media
Die verschiedenen Kanäle registrierten in der Zeit von Corona nicht nur viel mehr Aufmerksamkeit als sowieso schon, sondern auch noch einen Anstieg der Interaktionen der einzelnen Userinnen. Auf einmal stellte sich heraus, dass jene Person ganz toll singen konnte, eine andere erstaunlich schöne Bilder malte und wieder andere einen ungeahntes Talent für poetische Texte hatte. So vieles wurde auf einmal sichtbar. Schön ist, dass die auf einmal viel präsentere Kreativität der Menschen seit der Coronazeit nicht abgerissen ist.
Die negative Seite von Social Media zeigte sich in unzähligen Videos und Texten, die das Phänomen Corona mit Verschwörungstheorien zu erklären versuchten. Auch Ärzte, die COVID-19 für «eine normale Grippe» hielten oder Plauderis, die einen Zusammenhang mit der Ausbreitung des 5G-Standards herstellen wollten fanden ihr Publikum. Rückblickend zeigt sie ja, für die meisten Menschen wenig überraschend, wie weit sie damit daneben lagen.
Das war’s für heute – bleibt gesund!