Ich bin ein 49,7%-Gutmensch

Es muss irgendwann am Ende der 1990er-Jahre gewesen sein, als die politische Rechte der Schweiz mit dem Begriff aufkam: «Linke und Nette» hiess es damals. Später wurde darauf der auch in Deutschland bekannte «Gutmensch». Tatsächlich hat man es irgendwie geschafft, diese positiven Begriffe irgendwie negativ zu konnotieren. Und auch nach der Abstimmung vor zwei Wochen kriegte die Gutmenschen-Gruppe wieder ihr Fett weg. Man habe jetzt mal ein Zeichen gesetzt und man könne schliesslich nicht die ganze Welt aufnehmen. Das übliche Blabbla halt.

Gestern hatte ich für einen ganz kurzen Moment, mich zwischen den Alternativen Gut- oder Schlechtmensch zu entscheiden.

Ich war unterwegs von der Zentralschweiz in Richtung Winterthur. Der Verkehr floss erstaunlich gut für einen Freitagabend. Erst nach dem Gubristtunnel kam der Verkehr plötzlich ins Stocken. Da sich die Kolonnen kaum bewegten, war mir schnell klar, dass es wohl weiter vorne geknallt hatte. Schon als ich das realisierte, hätte ich die Wahl gehabt: Rege ich mich über diese Vollidioten auf, die verhindern, dass ich pünktlich ankomme? Oder aber frage ich mich, ob es den Beteiligten gut geht, weil es für mich auf die paar Minuten ja eigentlich nicht ankommt? Wahrscheinlich auch, weil ich bequem sass und guten Sound hören konnte, entschied ich mich für die zweite Variante.

Wie aus dem Nichts tauchte dann vor mir ein dunkel gekleideter Mann auf. Er stand nahe der Mittelleitplanke auf der Fahrbahn. Wieder hatte ich zwei Möglichkeiten: Ich kann mich über das fahrlässige Verhalten aufregen, nicht einmal ein Pannendreieck hat dieser dumme Mensch aufgestellt. Oder ich denke mir, dass ich so kurz nach einem Unfall wohl auch etwas verwirrt wäre und wohl nicht top-rational funktionieren würde. Der Fahrer vor mir entschied sich für die erste Variante, brüllte etwas aus dem Fenster und beschleunigte ziemlich dynamisch davon.

Ich hatte mir in der Zwischenzeit eine Warnweste aus der Sitztasche gekrallt, die ich dem Mann zum Fenster hinaus überreichen konnte. Er war etwas perplex, bedankte sich aber und zog sie dann auch gleich über.

Als ich ein paar Dutzend Meter weiter vorne die Unfallfahrzeuge sah, erblickte ich den mächtigen Range Rover mit deutschen Kennzeichen, der einen Kleinwagen im Heck stecken hatte. Auch jetzt hätte ich mich wieder zwischen zwei Varianten entscheiden können: Was macht dieser Idiot mit seinem riesigen Geländewagen überhaupt in der Schweiz? Bestimmt kam er seine zu Dumpinglöhnen arbeitenden Osteuropäer kontrollieren. Irgendwoher muss ja das Geld für diese Luxuskarosse ja herkommen. Oder aber ich frage mich, wie der Mann mit seinem am Heck massiv beschädigten Range nun von hier weg kommt.

Natürlich ist dieser Beitrag reichlich naiv und idealistisch. Und doch: Egal welchem Menschen man begegnet, man hat immer die Optionen, ihm Gutes oder Schlechts zu unterstellen. Schon bevor man ihn überhaupt erst kennenlernt. Wahrscheinlich bin ich zu einem Stück zu ersterem erzogen worden. Bis jetzt bin ich mit meinem Gutmenschentum eigentlich sehr gut gefahren. Abgesehen davon, dass man ab und zu dafür ausgelacht wird. Aber damit kann ich leben. Ich kann mir auch nicht recht vorstellen, welchen Sinn unser Dasein hätte, würden wir uns gar nicht bemühen, gute Menschen zu sein. Aber vielleicht erklärt mir das einer der Schlechtmenschen ja mal plausibel? 😉

Irgendwie habe ich das Gefühl, eine Zeile aus Marius Müller-Westernhagens Song Freiheit würde hier noch reinpassen:

Der Mensch ist leider nicht naiv.
Der Mensch ist leider primitiv.

6 Antworten auf „Ich bin ein 49,7%-Gutmensch“

  1. Psychologen nennen das Actor–Observer Asymmetry. Wenn man selber Fehler macht, attribuiert man das der Situation (d.h. «ich hab heute 12 Stunden lang gearbeitet und bin supermüde und hab deshalb versehentlich beim nach-Hause-fahren dem Fussgänger den Vortritt weggenommen»). Wenn man andere Leute Fehler machen sieht, attribuiert man sie der Person (d.h. «dieser Typ hat mir den Vortritt weggenommen und mich beinahe überfahren, was für ein rücksichtsloses Arschloch»).

    Nicht zum Opfer dieses Gedankenfehlers zu werden kostet mentale Kapazität, über die schlicht nicht alle Menschen verfügen. Menschen auf dem Autismus-Spektrum beispielsweise fehlt oft die Fähigkeit, zu verstehen, dass andere Leute ein ebenso komplexes Innenleben haben, wie man selbst, und dass man Menschen nicht derart einfach auf eine spezifische Situation reduzieren kann.

    Was das für konkrete Folgen hat, sieht man dann beispielsweise in Abstimmungen über Asylsuchende.

  2. Also sind wir weder gut noch nett…. sondern einfach etwas schlauer als «die Anderen»? Oder sind wir gut und nett, weil wir wissen, dass uns die Fehler der Anderen auch selbst passieren können?

  3. Bin verwirrt…

    Schon als ich das realisierte, hätte ich die Wahl gehabt: Rege ich mich über diese Vollidioten auf, die verhindern, dass ich pünktlich ankomme? Oder aber frage ich mich, ob es den Beteiligten gut geht, weil es für mich auf die paar Minuten ja eigentlich nicht ankommt? Wahrscheinlich auch, weil ich bequem sass und guten Sound hören konnte, entschied ich mich für die erste Variante.

    Also Du hast Dich für die erste Variante, «aufregen», entschieden?

    Abgesehen davon – der Deutsche mit dem Rover könnte auch ein Tourist sein. Also zu jenen gehören, die machen, dass ich am Skilift länger anstehen muss. Rausdamit! (Achtung Ironie)

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