faz wettert gegen deutsche medien

Sie haben es «Tube» genannt
Von Michael Hanfeld und Stefan Niggemeier

08. Juli 2005 Um kurz vor zwölf hatte die ARD den sieben Jahre alten, dutzendfach wiederholten Film «Single sucht Nachwuchs» brav bis zum Ende ausgestrahlt, und es meldete sich Evelin König.

Sie tat, als würde sie in einen Computer tippen, und sagte, natürlich informiere auch sie sich über Neuigkeiten aus London. Sie sei aber guter Hoffnung, daß die von ihr moderierte Koch- und Ratgebersendung «ARD Buffet» wie geplant ausgestrahlt würde. Blöd sei nur, daß sie die interessanten Informationen gerade nicht ausdrucken könne, der Drucker spinne.

Noch zehn Minuten Druckerprobleme

«Druckerprobleme» sei aber glücklicherweise auch das Thema der «Buffet»-Sendung, und so rief sie schnell beim geladenen Drucker-Experten an, der holte ein zerknittertes Papier aus dem Gerät – und dann übernahm die ARD zum Glück planmäßig für eine Viertelstunde die aktuelle Berichterstattung vom ZDF. Das «Buffet» zum gefühlten Thema Druckerprobleme in Zeiten globaler Terrorbedrohung ging danach aber tatsächlich noch für zehn Minuten auf Sendung.

Vor allem der Nachrichtensender n-tv hatte sein Programm da bereits auf eine erstaunliche Mischung aus Börsen- und Katastrophenberichterstattung umgestellt. Während Live-Bilder zeigten, wie Verletzte aus der U-Bahn-Station Aldgate getragen und versorgt wurden, berichten Sprecher und Experten besorgt, daß die Aktienindizes um zwei, drei, sogar vier Prozent zurückgegangen seien – so, als sei das die eigentliche Katastrophe an diesem Tag.

«Einer der spannendsten Tage»

Umgekehrt mußte die heftige Reaktion der Börsen zu diesem frühen Zeitpunkt als Beleg dafür dienen, daß etwas Schlimmes passiert sein mußte – frei interpretiert von Investmentexperten am Telefon. Bei den Kollegen von N24 verstrickte sich ein Analytiker angesichts der unsicheren Börsenentwicklung in der Formulierung: «Es wird sicher einer der spannendsten und hoffentlich nicht traurigsten Tage, die wir hier erleben müssen.»

Es ist kein origineller Wunsch an solchen Tagen vor dem deutschen Fernsehen, aber er wird mit jedem Mal intensiver: Man wünschte sich, die Sender würden sich darauf beschränken, ein paar sehr gute Simultandolmetscher zu beschäftigen, und das Programm von CNN, BBC World oder ITV einfach nur übersetzen. Statt dessen machten sie lange Zeit jeden Sendermitarbeiter, der sich zufällig im Umkreis von fünfzig Kilometern um das Stadtzentrum aufhielt, zum Augenzeugen.

Festgesessen in der U-Bahn

Das ZDF, das vergleichsweise früh, um 11.15 Uhr, mit einem «ZDF Spezial» auf Sendung ging, hatte als Informationsquelle einen Reporter, der zum Zeitpunkt der Anschläge «in derselben U-Bahn-Linie» saß – allerdings viele, viele Kilometer entfernt. Und egal wie oft die Moderatorin ihn nach Hintergründen, Neuigkeiten und Analysen fragte: Alles, was der arme Mann berichten konnte, war, daß er gerade aus einer U-Bahn gestiegen sei, in der er vierzig Minuten festgesessen hatte.

Bei RTL saß eine verwirrte Katja Burkard im «Punkt 12»-Studio fest und vermißte vor allem eines: Panik. «Wenn ich mir vorstelle, ich wäre dort, ich wäre furchtbar panisch», sagte sie zu Martina Neuen. Die meldete sich, wie der Sender immer als dramatisierendes Element einblendete, «live aus der Londoner U-Bahn». Allerdings war sie längst auf der Straße und das in Paddington, einer Station, wie die Reporterin betonte, die ganz ähnlich sei wie die betroffene «Liverpool Street» – wenn auch am anderen Ende der Stadt.

Der nächste Zug nach Heathrow

Wenn sie nicht einen Flug von Heathrow, sondern von Stanstead gebucht hätte, wäre sie vielleicht jetzt in «Liverpool Street» gewesen, fügte sie hinzu und verabschiedete sich mit den Worten, sie werde nun den nächsten Zug nach Heathrow nehmen, um so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Katja Burkard ließ sich nicht beeindrucken: «Wir sprechen uns später bestimmt noch einmal.» Auch Catja Stammen, eine weitere RTL-Mitarbeiterin, war keine Hilfe. «Im Zentrum von London» verortete sie die Moderatorin. Doch die vermeintliche Augenzeugin saß auf der Autobahn fest, fernab jeder Information.

Dann kam die große Stunde von Michael Karr, den man als «Nachtjournal»-Vertretungsmoderator kennt, der vom Sender aber offenbar zum «RTL-Terrorismus-Experten» befördert worden ist. Zu einem Zeitpunkt, an dem fast noch nichts feststand, schon gar nicht die Zahl der Toten, sagte er: «Was mich stutzig macht, ist die relativ geringe Opferzahl», und wagte sogar eine Interpretation: Entweder seien die Terroristen «nicht entsprechend ausgebildet» gewesen wie die in Madrid, «oder es war beabsichtigt, weniger Schaden anzurichten».

Ein «brillanter» Zeitpunkt

«Brillant», mit hinzugefügten «Anführungszeichen», fand er hingegen den Zeitpunkt der Anschläge ausgewählt – einen Tag, nachdem London den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam und noch während der G-8-Gipfel in Gleneagles tagte. Auch fragte er sich, ob man über die immensen Sicherheitsvorkehrungen in Schottland es nicht an der nötigen Wachsamkeit in London habe fehlen lassen. Darüber zu spekulieren ist angesichts eines solchen Terroraktes wohlfeil, sonst nichts.

Elmar Theveßen vom ZDF hingegen ist seit geraumer Zeit als Terrorexperte eingeführt und war in seinen Einlassungen – wie auch die Kollegen im amerikanischen und britischen Fernsehen – angemessen zurückhaltend. Denn wer, «Experte» hin oder her, will im Augenblick des Anschlags schon alle Hintergründe kennen und um Vorsichtsmaßnahmen wissen, die man angeblich vernachlässigt hat? Die Behörden, sagte Theveßen, seien auf ein solches Szenario vorbereitet, doch wenn es passiere, sei selbstverständlich niemand in der Lage, ein Chaos vollständig zu vermeiden. Im zwischengeschalteten ZDF-Filmbericht wurden derweil aus dem U-Bahnhof Aldgate nicht, wie bei den anderen Sendern, neunzig Verletzte, sondern neunzig Tote gemeldet.

Segensreiches Phoenix

Wie segensreich die Einrichtung von Phoenix für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ist, das zeigt sich an einem solchen Tag übrigens abermals. Hier wies «Zeit»-Korrespondent Jürgen Krönig darauf hin, daß es in den letzten Jahren eine ganz Reihe von versuchten Anschlägen in London gegeben habe, davon aber nicht viel in der Zeitung stehe, weil sich die britische Presse vor den Prozessen, die Terrorverdächtige noch zu gewärtigen haben, in einer Zurückhaltung üben müsse, die sie in anderen Bereichen nicht an den Tag lege.

Die Berichterstattung von N24 und n-tv war auch an diesem Tag indiskutabel, was nicht zuletzt daran lag, daß die Sender von der ersten Minute an versuchten, zu spekulieren, interpretieren und analysieren – wo schon das schlichte Sortieren und Vermitteln der Nachrichten eine erhebliche Herausforderung darstellte. Die Anschläge waren noch keine vier Stunden her, da wollte N24-Chefmoderator Alexander Privitera von einer Expertin wissen, wie man sie auf einer «Qualitätsskala» im Vergleich zu New York und Madrid einstufen müsse. Und bei n-tv waren einzelne Moderatoren schon mit der Aussprache des Wortes «police» überfordert. «Sie haben es ,Tube› genannt», staunte ein n-tv-Mann im Gespräch mit einem Reporter. «Sie waren in so einem ,Tube› eingeschlossen. Wie muß man sich das vorstellen?»

Was man am besten macht, wenn man selber nicht genau erklären kann, was vorgeht, das bekam man im Lauf des Vor- und Nachmittags wieder einmal bei CNN zu sehen. Dort sagte ein Mann, der in einem der betroffenen Züge saß, auf die Frage nach den möglichen Tätern, daß man für sie nur Mitleid haben könne. «Mitleid?» fragte der Reporter. Was sonst, bekam er zur Antwort, könne man für Menschen empfinden, die eine solche Barbarei anrichteten.

Text: F.A.Z., 08.07.2005, Nr. 156 / Seite 38

Eine Antwort auf „faz wettert gegen deutsche medien“

  1. irgendwie…
    … bin ich froh, zu dem zeitpunkt beim zivildienst fernab jeglicher tv’s und zeitungen (:D) gewesen zu sein und das ganze erst einige stunden später beim abtrocknen im radio gehört zu haben

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