die schweizer kultur ist in gefahr

ja, sie ist in gefahr. diesen eindruck kriege ich jedenfalls, wenn ich hier einige kommentare lese. da heisst es, die schweizer kultur werde in die ecke gedrängt oder gar übergangen. der erste august steht vor der tür, vielerorts wird die rote fahne mit dem weissen kreuz drauf wieder aufgezogen. aber natürlich würde es zu kurz greifen, die schweizer kultur nur an ein paar grillfesten am 1. august festzumachen. dennoch frage ich: was ist denn die schweizer kultur?

auf die antworten in den kommentaren bin ich gespannt. jene, die unsere kultur im untergehen begriffen sehen, werden ja ganz genau wissen, was sie denn überhaupt ist. für mich manifestiert sich kultur in den verschiedensten facetten. da spielt sicher die sprache eine rolle, aber auch architektur, kunst, musik und nicht zuletzt auch das essen. auch sport gehört für mich in den bereich kultur. wo ich lebe und arbeite, ist schweizerdeutsch noch immer die einzig gesprochene sprache. sicher haben wir einen hohen ausländeranteil in der firma, dennoch wird ausschliesslich der schweizer dialekt gesprochen. in der freizeit und im ausgang, beispielsweise aktuell am blue balls festival in luzern unterhalte ich mich ebenfalls ausschliesslich in unserer muttersprache. in der architektur stelle ich keine tendenzen fest, dass sich «fremde» baustile durchsetzen würden. die sprache der meisten gestalter dürfte sich noch immer auf das bauhaus und auf le corbusier beziehen. nicht wirklich schweizerisch, aber ganz klar lokal verankert. im bereich kunst bin ich zu wenig bewandert, um zu sagen, ob hier das fremde (insbesondere natürlich der böse islam) das schweizerische element am verdrängen ist. beim essen hingegen stelle ich zwar keine verdrängung fest, die diversifizierung ist aber ganz klar spürbar. mittlerweile gibt es selbst in sursee einen (richtig guten) sushi-laden. im gleichen städtchen finden sich auch thailändische, mexikanische und natürlich italienische küche. das ändert aber nichts daran, dass ich gerne mal ein saftiges entrecote verzehre, am liebsten im ochsen in schenkon. die schweizer kultur in die ecke gedrängt? really?

wo ist das in der schweiz denn überhaupt konkret der fall? wo verdrängt muslimisches auf aggressive weise die ortsanässige kultur? ich erlebe aus meiner warte ein friedliches nebeneinander, manchmal sogar miteinander der kulturen. in der schweiz haben schwing- und jodlerfeste mehr publikum denn je. auf den schweizer radiosendern wird mehr schweizer musik gespielt denn je (habe keine statistik dazu, ist mein bauchgefühl). der support für die schweizer nati und roger federer ist ungebrochen gigantisch, obwohl beide nicht mehr an ihre allerbesten leistungen anknüpfen können. ich selbst bin extra ein weekend nach london geflogen, nur um dort unseren elf rotweissen beim fighten zu zuzuschauen (und sie zu unterstützen). kann mir mal jemand sagen, wo ganz genau unsere kultur an den rand gedrängt oder wie es auch formuliert wurde «übergangen wird»? wie übergeht man überhaupt eine kultur?

wer schweigt, stimmt zu

zum ersten august brachte der tagesanzeiger in der gestrigen ausgabe folgenden artikel von jean-martin büttner. das sind einige interessante gedanken dabei. unter anderem eine mögliche erklärung für die tiefen beteiligungsraten bei abstimmungen und wahlen.

einen schönen 1. august euch allen!

Wer schweigt, stimmt zu

Selbstverwirklichung ist eine Chance und eine Aufgabe: Überlegungen zum 1. August

Von Jean-Martin Büttner

Die Schweiz funktioniert. Es kommt zu Krisen und Konflikten, es passieren Skandale, es droht sogar eine Seuche. Aber das lässt sich alles bewältigen oder wenigstens abmindern. Selbst die schlimmsten Momente stehen für viele ind er Schweiz in keinem Verhältnis zu dem , was Menschen in anderen Ländern täglich zustösst. Kein Krieg bei uns, kein Hunger oder Durst, keine verheerende Umweltzerstörung. Ein betriebsamer Friede herrscht, die Höhenfeuer flackern, unser letzter Krieg wird zum Thema einer Fernsehserie gemacht. Auf wessen Kosten dieser Friede betrieben wird, braucht uns nicht zu kümmern, weil wir die Folgen ignorieren können. Wir befinden uns nämlich ganz zuoberst; und leben dort, wo alle hinwollen. Unser Land mag manchen satt vorkommen, ereignislos und bieder. Aber es bleibt, im internationalen Vergleich, ein alpines Paradies.

Zuoberst hat es am wenigsten Platz: auf dem Gipfel – und auf der Bedürfnispyramide. Die Metapher stammt vom amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, der 1954 eine Hierarchie menschlicher Bedürfnisse formulierte. Je drängender die Bedürfnisse sind, desto wichtiger wird ihre Befriedigung. Je mehr Grundbedürfnisse erfüllt werden, desto eher lasse sich höhere verfolgen.

Zuunterst steht das Überleben: Atmen, Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität. Dann kommt die Sicherheit: Frieden, Schutz, Wohnung, Arbeit, Glaube. Es folgen Beziehungen, Familie, Freunde, dann Wohlstand, Macht und Karriere. An der Spitze der Bedürfnispyramide steht die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, das Streben nach Glück. Dazu gehören auch Kunst, Ethik, Wissenschaft und Philosophie. Die Hierarchie mutet schematisch an, verhält sich aber dynamisch: Grosse Kunst zum Beispiel entsteht oft aus grosser Not, Wohlstand garantiert keine Menschlichkeit, Selbstverwirklichung schliesst Gier nicht aus.

Interessanter ist ein anderer Widerspruch: dass eine Gesellschaft umso weniger für diese Bedürfnisse tut, je leichter sich der Einzelne verwirklichen kann – und umgekehrt. Abertausende junger Iranerinnen und Iraner verlangen verzweifelt nach Rechten, um die sich in der Schweiz immer weniger kümmern. Das iranische Regime unterdrückt Andersdenkende, Andersgläubige und Frauen, es verbietet Religions- und Meinungsfreiheit, es verhindert die politische Vielfalt. In der Schweiz bleibt über die Hälfte der Bevölkerung den Wahlen fern, bei Abstimmungen sind es oft noch mehr. Sogar in den Gemeinden wollen immer weniger mitentscheiden, was in ihrem Dorf geschieht.

Man kann das beklagen, und das wird oft getan; die Klage selbst ist zum Ritual erstarrt, obwohl sie die Belebung fordert. Dass die Bürger einer Demokratie immer weniger leben, wofür Menschen in anderen Ländern sterben, hat etwas Peinliches. Und es löst regelmässig strenge Apelle aus, Aufrufe gegen die Lethargie.

Aber die Aufrufe verhallen. Vielleicht deshalb, weil man die Weigerung auch anders sehen kann. Wer der Gemeindeversammlung fernbleibt, den stört das neue Einkaufszentrum nicht, dem ist die Umzonung egal, der hat nichts gegen den Schulvorstand einzuwenden. Wer nicht abstimmen geht, ist einverstanden mit der Ausländerpolitik, den Waffenexporten, dem Stadtverkehr, den Gesundheitskosten. Wer nicht wählt, will keine bessere Regierung, keine andere Politik. Er ist im besten Fall glücklich und hat schlimmstenfalls resigniert.

Unabhängig von den Motiven gilt: Wer schweigt, stimmt zu. Ist das schlimm? Die Erfahrung zeigt, dass Bürgerinnen und Bürger schnell aktiv werden, wenn ihnen etwas nicht passt. Dann füllen sich die Gemeindesäle und Urnen. Dennoch bleibt die Frage, ob das genügt. Vieles von dem, was uns einmal bedroht, entwickelt sich lange vorher als Prozess. WAs eine Generation ignoriert – den Umweltschutz zum Beispiel, die sozialen Spannungen, die Verbauung der Landschaft -, mit dem muss die nächste Generation leben. Selbstverwirklichung also, das höchste aller Bedürfnisse: Sie lässt sich nur so lange garantieren, als sie nicht bloss als Chance für den Einzelnen wahrgenommen wird, sondern als Verantwortung für viele.