zum ersten august brachte der tagesanzeiger in der gestrigen ausgabe folgenden artikel von jean-martin büttner. das sind einige interessante gedanken dabei. unter anderem eine mögliche erklärung für die tiefen beteiligungsraten bei abstimmungen und wahlen.
einen schönen 1. august euch allen!
Wer schweigt, stimmt zu
Selbstverwirklichung ist eine Chance und eine Aufgabe: Überlegungen zum 1. August
Von Jean-Martin Büttner
Die Schweiz funktioniert. Es kommt zu Krisen und Konflikten, es passieren Skandale, es droht sogar eine Seuche. Aber das lässt sich alles bewältigen oder wenigstens abmindern. Selbst die schlimmsten Momente stehen für viele ind er Schweiz in keinem Verhältnis zu dem , was Menschen in anderen Ländern täglich zustösst. Kein Krieg bei uns, kein Hunger oder Durst, keine verheerende Umweltzerstörung. Ein betriebsamer Friede herrscht, die Höhenfeuer flackern, unser letzter Krieg wird zum Thema einer Fernsehserie gemacht. Auf wessen Kosten dieser Friede betrieben wird, braucht uns nicht zu kümmern, weil wir die Folgen ignorieren können. Wir befinden uns nämlich ganz zuoberst; und leben dort, wo alle hinwollen. Unser Land mag manchen satt vorkommen, ereignislos und bieder. Aber es bleibt, im internationalen Vergleich, ein alpines Paradies.
Zuoberst hat es am wenigsten Platz: auf dem Gipfel – und auf der Bedürfnispyramide. Die Metapher stammt vom amerikanischen Psychologen Abraham Maslow, der 1954 eine Hierarchie menschlicher Bedürfnisse formulierte. Je drängender die Bedürfnisse sind, desto wichtiger wird ihre Befriedigung. Je mehr Grundbedürfnisse erfüllt werden, desto eher lasse sich höhere verfolgen.
Zuunterst steht das Überleben: Atmen, Essen, Trinken, Schlafen, Sexualität. Dann kommt die Sicherheit: Frieden, Schutz, Wohnung, Arbeit, Glaube. Es folgen Beziehungen, Familie, Freunde, dann Wohlstand, Macht und Karriere. An der Spitze der Bedürfnispyramide steht die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung, das Streben nach Glück. Dazu gehören auch Kunst, Ethik, Wissenschaft und Philosophie. Die Hierarchie mutet schematisch an, verhält sich aber dynamisch: Grosse Kunst zum Beispiel entsteht oft aus grosser Not, Wohlstand garantiert keine Menschlichkeit, Selbstverwirklichung schliesst Gier nicht aus.
Interessanter ist ein anderer Widerspruch: dass eine Gesellschaft umso weniger für diese Bedürfnisse tut, je leichter sich der Einzelne verwirklichen kann – und umgekehrt. Abertausende junger Iranerinnen und Iraner verlangen verzweifelt nach Rechten, um die sich in der Schweiz immer weniger kümmern. Das iranische Regime unterdrückt Andersdenkende, Andersgläubige und Frauen, es verbietet Religions- und Meinungsfreiheit, es verhindert die politische Vielfalt. In der Schweiz bleibt über die Hälfte der Bevölkerung den Wahlen fern, bei Abstimmungen sind es oft noch mehr. Sogar in den Gemeinden wollen immer weniger mitentscheiden, was in ihrem Dorf geschieht.
Man kann das beklagen, und das wird oft getan; die Klage selbst ist zum Ritual erstarrt, obwohl sie die Belebung fordert. Dass die Bürger einer Demokratie immer weniger leben, wofür Menschen in anderen Ländern sterben, hat etwas Peinliches. Und es löst regelmässig strenge Apelle aus, Aufrufe gegen die Lethargie.
Aber die Aufrufe verhallen. Vielleicht deshalb, weil man die Weigerung auch anders sehen kann. Wer der Gemeindeversammlung fernbleibt, den stört das neue Einkaufszentrum nicht, dem ist die Umzonung egal, der hat nichts gegen den Schulvorstand einzuwenden. Wer nicht abstimmen geht, ist einverstanden mit der Ausländerpolitik, den Waffenexporten, dem Stadtverkehr, den Gesundheitskosten. Wer nicht wählt, will keine bessere Regierung, keine andere Politik. Er ist im besten Fall glücklich und hat schlimmstenfalls resigniert.
Unabhängig von den Motiven gilt: Wer schweigt, stimmt zu. Ist das schlimm? Die Erfahrung zeigt, dass Bürgerinnen und Bürger schnell aktiv werden, wenn ihnen etwas nicht passt. Dann füllen sich die Gemeindesäle und Urnen. Dennoch bleibt die Frage, ob das genügt. Vieles von dem, was uns einmal bedroht, entwickelt sich lange vorher als Prozess. WAs eine Generation ignoriert – den Umweltschutz zum Beispiel, die sozialen Spannungen, die Verbauung der Landschaft -, mit dem muss die nächste Generation leben. Selbstverwirklichung also, das höchste aller Bedürfnisse: Sie lässt sich nur so lange garantieren, als sie nicht bloss als Chance für den Einzelnen wahrgenommen wird, sondern als Verantwortung für viele.
Iran und die Schweiz
> Abertausende junger Iranerinnen und Iraner verlangen verzweifelt nach Rechten, um die sich in der Schweiz immer weniger kümmern
Noch schlimmer, die Menschen hier stimmen aktiv in Abstimmungen dafür dass man ihnen ihre Rechte wegnimmt. Die Iraner sterben für ein bisschen mehr Recht und Freiheit, wir verschenken Recht und Freiheit aus einer konfusen Angst vor imaginären Bedrohungen.
Diejenigen die gar keine Probleme haben geben sich halt nach wie vor alle Mühe, welche zu erfinden damit sie sich trotzdem auch über etwas aufregen dürfen.
BTW, im vierten Abschnitt sind ein paar Sätze verwurstelt.
Mehr Kontrast
>Abertausende junger Iranerinnen und Iraner verlangen verzweifelt nach Rechten, um die sich in der Schweiz immer weniger kümmern
Die iranischen Studenten sterben dafür, dass die religiösen Führer etwas weniger Einfluss auf die Politik haben, während Amadé gemeinsam mit der Mehrheit der stimmenden Bevölkerung dafür stimmt dass reliöse Dogmen an Universitäten gelehrt werden müssen und Voodoo-Homöopathie-Heiler in die Grundversicherung aufgenommen werden müssen 😛
Wenn der Trend so weitergeht müssen wir in den nächsten paar Dekaden in den Iran flüchten. Bleibt zu hoffen dass die Leute dort nicht so xenophobisch sind wie Hardman 🙂
verwurstelt
BTW, im vierten Abschnitt sind ein paar Sätze verwurstelt.
leider nicht nur da. keine ahnung was da beim tagi e-paper los ist. war nämlich copy-paste…
entwurstelt
so, die sätze sollten jetzt stimmen. dafür hat’s wohl ein paar typos drin. 🙂