Von Eigenverantwortung und Freiheit

Ich hab’s nicht so mit Daten und sie sind für diesen Beitrag auch nicht wichtig, aber irgendwann im Anfang 2020 kam die Corona-Pandemie in der Schweiz an. Von Beginn an wählte unsere Regierung einen eigenen Weg. Verglichen mit den umliegenden Staaten waren die Massnahmen stets schwächer, die Einschränkungen kleiner. In der Folge waren die Fallzahlen in der Schweiz teilweise deutlich über jenen der anderen europäischen Staaten. Die ganze Chose lief immer unter ein und demselben Motto: Eigenverantwortung.

Ein schönes Konzept. Jeder schaut für sich und am Ende sinkt das Risiko für alle. In der Theorie. In der Praxis zeigte sich schnell, dass Eigenverantwortung nur beschränkt oder nicht funktionieren würde. Doch man bliebt auf jenem Pfad und bei der zweiten und dritten Welle mutete man den Menschen nicht etwa weniger, sondern eher noch mehr Eigenverantwortung zu. So weit, so schlecht.

Immer begleitet waren die drei Wellen der Pandemie von Leuten, die laut «Dikatatur!» schrien und nach «Freiheit!» verlangten. Man fand abwechselnd, die Regierung handle wie jene der DDR, Nazi-Deutschlands oder Chinas. Es braucht nur einen Hauch von Geschichtsverständnis, um die Absurdität solcher Vergleiche zu begreifen. Nun hat sich die Situation abermals verschärft, weil die Impfung in Form von Pfizer-Biontech- und Moderna-Impfstoffen in der Schweiz verfügbar wurde. Wie ich zur Impfung an sich stehe, habe ich ja hier bereits festgehalten.

Irgendwann kam zur Impfung noch das Werkzeug des Covid-Zertifikats hinzu. Also ein Zertifikat, das zeigt, dass man geimpft, genesen oder frisch negativ getestet wurde. Zunächst fand es nur an wenigen Orten Anwendung, beispielsweise in Nachtclubs, in denen getanzt wird. Da nun aber die Zahlen immer stärker verdeutlichten, dass a) die Impfung wirkt und b) die schweren Fälle praktisch ausnahmslos ungeimpfte Menschen betreffen, wird die Zertifikatspflicht per Montag 13. September 2021 ausgeweitet. Danach kommt man nur noch mit einem Covid-Zertifikat ins Restaurant.

Wieder sind die Aufschreie zu hören: «Apartheid» heisst es nun. Naja, meines Wissens war das damals in Südafrika etwas anders, aber ja, wir wären da wieder beim Geschichtsverständnis. Ich sehe es eher als Resultat der «Eigenverantwortungsstrategie». Denn nur weil sehr viele Leute in der Schweiz ihre Verantwortung gegenüber der Gesellschaft nicht wahrgenommen haben und sich nicht haben impfen lassen, haben wir jetzt diesen Salat. Salade quatrième vague, sozusagen. Und genau deshalb wird die Freiheit, nach der schon seit Beginn geschrien wird, weiter eingeschränkt.

Es sind also genau jene Leute, die von Dikatur fantasieren, die den Bundesrat letztlich zu diesen Massnahmen gezwungen haben. Denn diese Leute interpretieren Freiheit so, dass jeder tun und lassen kann, was er will. Das ist jedoch nicht die Definition von Freiheit, sondern die von Anarchie. Wenn man Kants kategorischen Imperativ salopp übersetzt, sagt er: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Und genau darum hat man zwar die Freiheit, sich selbst mit Corona infizieren (was nicht sonderlich schlau ist), aber eben nicht jene Freiheit, andere Menschen anzustecken.

Es ist relativ einfach: Shut up, lasst Euch impfen, übernehmt Verantwortung. Denn momentan habt ihr nur eine Wahl: Entweder man impft sich oder man wird infiziert. Wo die Risiken kleiner sind, ist sonnenklar.

2 Antworten auf „Von Eigenverantwortung und Freiheit“

  1. Die Leute, die nach Eigenverantwortung rufen, verstehen meist nicht, was das Wort «Verantwortung» bedeutet. Es bedeutet, dass man die Konsequenzen seines Handelns akzeptiert. Die Eigenverantwortungsrufer wollen jedoch keinerlei Verantwortung für die Folgen ihres Handelns übernehmen.

    Stattdessen wollen sie alle anderen auf Twitter und Facebook als Nazis bezeichnen.

    Wenn man noch nicht einmal mit Kritik für sein eigenes Verhalten umgehen kann, ohne andere als Nazis zu bezeichnen, wie kann man dann behaupten, dass man «Eigenverantwortung» übernimmt? Unser Schweizer Experiment hat gezeigt, dass «Eigenverantwortung» nichts als Verantwortungslos ist.

    Biden hat gerade ein Impfmandat angekündigt, welches 100 Millionen Amerikaner betrifft. Wir hingegen versuchen, es unseren Impfgegnern so einfach wie möglich zu machen. Statt Eigenverantwortung zu übernehmen, rennen unsere Impfgegner nach Bern, um dort zu demonstrieren – wie verwöhnte kleine Kinder, deren Glace nicht so gross ist, wie sie wollten, und die nun in der Migros schreiend am Boden liegen. Am Ende hinterlassen sie nichts als eine Pinkellache, die natürlich von allen anderen aufgeputzt werden muss. Das ist Eigenverantwortung.

    Wenn ich die Bilder dieser Fahnen schwingenden Leute sehe, die sich richtig darüber freuen, dass sie so tun dürfen, als ob sie Opfer eines Pogroms wären, geht mir nur eines durch den Kopf: Was können wir tun, um diese Leute davon zu überzeugen, dass sie produktive Mitglieder unserer Gesellschaft werden sollen, und Verantwortung für ihr Verhalten, und für das Wohl der Schweiz übernehmen müssen? Vermutlich nichts.

    Man muss hier allerdings auch anmerken, dass die Schweiz selber schuld an dieser Situation ist. Seit Jahrzehnten haben wir hier eine aktive, wachsende Gruppe von Impfgegnern, denen regelmässig Zugeständnisse gemacht wurden. In der Schweiz sind weniger Impfungen auf dem Impfplan als in anderen Europäischen Ländern, und es ist für Eltern hier einfacher, ihre Kinder nicht zu impfen. Es gibt kaum Kritik an Impfgegnern. Diese Politik der Akzeptanz hat dazu geführt, dass wir ein viel grösseres Impfgegner-Problem haben als vergleichbare Länder.

    Dafür bezahlen wir nun.

    Ich würde hier normalerweise mit einem positiven Gedanken enden, sowas wie «vielleicht lernen wir ja etwas aus dieser ganzen Misere.» Dafür ist es nun allerdings zu spät. Die liberalen Anarchisten haben gewonnen. Und nicht nur bei diesem Thema: das Problem der globalen Erwärmung versuchen wir nämlich auch mit «Eigenverantwortung» zu lösen. Bis so viel kulturfähiges Land verschwunden ist, und das Klima derart aus den Fugen geraten ist, dass sich die ganze Frage einer liberaldemokratischen Gesellschaft sowieso erübrigt.

    Nächste Woche ist dann glaubs Demo in Bern für alle betrunkenen Autofahrer. «Unser Körper gehört uns selbst! Ich bestimme, was in meinen Körper kommt! Wenn ich ihn mit Alkohol füllen und in ein Auto setzen will, dann ist das mein liberales Recht! Eigenverantwortung bedeutet, dass es deine Eigenverantwortung ist, zu Hause zu bleiben, wenn ich betrunken Auto fahre! Wenn ich jemanden überfahre und die Polizei kommt, ist das genau wie die Gestapo! #freedom»

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